Das „Büro für überflüssige Worte“ auf der Demokratiekonferenz Neu Isenburg 2022
Im alten Griechenland war Demokratie eine Angelegenheit öffentlicher Plätze, der Foren, der Agora. Daher ist es nicht abwegig, eine Demokratiekonferenz in Neu Isenburg unter herbstlich-freiem Himmel auf dem Rosenauplatz zu veranstalten. Zwischen dem 1970er Jahre-Brutalismus der Hugenottenhalle und dem modernistisch verglasten Einkaufszentrum nimmt sich der Rosenauplatz nicht gerade einladend aus. Der euphemistische Name soll wohl die Ödheit des Platzes wiedergutmachen.
Aber unter einer wohlig warmen Herbstsonne entsteht aus den Ständen mit Infomaterial zu Demokratie, Inklusion, Diversität, aus blauen Polsterstühlen vor einer kleinen Bühne, aus dem feuerroten „Democracy for Design“ Bus und den kubischen Plakatwerkstätten eine eigene kleine Welt. Das „Büro für überflüssige Worte“ fühlt sich hier ganz wohl. Mein Motto: „Demokratie stärken, überflüssiges Geschwätz vermeiden“.
Wie passend, dass als erster Bürgermeister Gene Hagelstein – aufgrund eines Beinbruchs im Rollstuhl – auf mich zu rollt und ganz dringend das Wort „Nachhaltigkeit“ loswerden möchte. Für ihn eine überflüssige und nichtssagende Floskel, die keinerlei Bedeutung mehr habe und in politischen Reden nur noch nerve. Ein typisch zeitgeistiges Blähwort, das bedeutungsschwanger klingt, ohne etwas Konkretes auszusagen. Er könne aber nicht sicher versprechen, dass er es nie wieder verwenden werde. Politikerreden kämen nicht immer ohne solche Floskeln aus. Reden seien ja nicht nur Argumente, sondern auch Signal. Viele Floskeln signalisierten die Verbundenheit mit den aktuellen Diskursen. Ausserdem: je konkreter die Sprache, desto angreifbarer würden Politiker. Bürgermeister Hagelstein bekennt, dass er gelegentlich zu Flapsigkeiten neige. Flapsigkeit und Lockerheit könnten zwar in der direkten Begegnung als menschlich, sympathisch und authentisch wahrgenommen werden. Aus dem Kontext gerissen und medial verbreitet, böten sie aber häufig zu Missverständnissen Anlass.
Ersetzen Sie doch einfach „nachhaltig“ mit „dadabeng“ schlage ich vor. Und tatsächlich eröffnet Bürgermeister Hagelstein kurz darauf die Konferenz mit einem feierlichen „dadabeng“.
Was hat das „Büro für überflüssige Worte“ eigentlich mit Demokratie zu tun? Das Projekt versteht sich als offener Debattenort, Ort des freien Meinungsaustauschs und der gelebten Toleranz. Vielfalt und Respekt werden großgeschrieben. Diskriminierung durch Sprache ist ebenso ein Thema, wie die Problematik von Sprachzensur. Das „Büro für überflüssige Worte“ bietet einen interaktiven, niederschwelligen Zugang zu Sprache, Sprachkritik und Poesie und lebt von der Beteiligung aller Bevölkerungsschichten.
Heute folgt dem Bürgermeister eine Mitarbeiterin des Ordnungsamtes, die den Begriff „Ordnungsamt“ nicht ausstehen kann. Ein Rentner, fühlt sich von dem Begriff „Rentnerschwemme“ beleidigt. Kinder möchten „Krieg“ und „Streit“ entsorgen. Jugendliche sind von „Bullshit“ und „wallah“ genervt. Aktivistinnen möchten die Wörter „Toleranz“ und „Solidarität“ und „Integration“ loswerden.
Echt jetzt? Ja, diese Wörter, so höre ich, erfüllen einfach nicht das, was sie versprechen. Sie sind nicht das, was sie vorgeben zu sein. Nun ja, werfe ich ein, es sind abstrakte Begriffe, die mit unterschiedlichen inhaltlichen Vorstellungen verbunden sind. Das ist ein Grundproblem aller großen, abstrakten Begriffe, von der Gerechtigkeit, über die Menschlichkeit, bis hin zu Rassismus oder gar Demokratie selbst. Wir alle glauben zu wissen, was wir damit meinen, verstehen aber mitunter völlig unvereinbare Konzepte darunter.
Es ist ein altes Problem, dass sich die Feinde der Demokratie gerne als „Demokraten“ bezeichnen. Von der „Deutschen Demokratischen Republik“ oder der „Demokratischen Republik Kongo“ des ultragrausamen afrikanischen Diktators Mobutu bis hin zu rechtsextremen Querdenkern, die mit dem Grundgesetz fuchtelnd ein Parlament erobern wollen, dass sie eigentlich verachten.
Im Vorfeld der Veranstaltung habe ich zu meinem Entsetzen herausgefunden, dass selbst der Begriff „Demokratiekonferenz“ von der Querdenkerpartei „Die Basis“ vereinnahmt wurde, die unter diesem Titel eine Website und eine Facebookseite betreibt.
Wir geraten ins Diskutieren und müssen zugeben, dass Sprache immer mehrdeutig ist. Meistens hören und verstehen wir nur das, was wir hören und verstehen wollen. Es scheint unmöglich, wirklich eindeutige, präzise, objektive, immer und überall gültige Begriffe zu finden. (Juristische Sprache versucht genau das zu dem Preis, dass sie nahezu unverständlich wird). Je nach Kontext, je nach Nutzer, je nach Absicht verschiebt sich die Bedeutung.
Andererseits könnten wir nicht zusammenleben und kommunizieren, wenn wir nicht doch einen vagen Grundkonsens über viele Begriffe teilen würden. Wenn wir nicht nur Parolen nachplappern, sondern nachdenken, können wir „Demokratie“ fast ebenso gut wie den Begriff „Stuhl“ definieren. Wenn wir Extremisten einen Begriff wie „Demokratie“ nicht kampflos überlassen wollen, müssen wir in der Lage sein, ihn selbst zu definieren und mit Inhalt zu füllen. Ich würde zum Beispiel sagen, dass zur Demokratie nicht einfach nur irgendeine Form von Wahlmechanismus gehört, sondern die reale Möglichkeit, Machthaber abzuwählen. Eine Wahl muss fair, frei von Zwang, geheim und gleich sein und muss überprüfbar sein. Mein Demokratieverständnis beinhaltet Gewaltenteilung, die (möglichst weitgehende) Unabhängigkeit von Regierung, Parlament, Justiz, das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf freie und unabhängige Medien, auf eine freie Kunstausübung ohne Zensur. Mein Demokratieverständnis beinhaltet die Grundrechte der freien Berufs- und Wohnortswahl, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Versammlungsrecht, aber auch die allgemeinen Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten. Oft übersehen scheint mir die Bedeutung des „Rechtsstaates“ für die Demokratie. Alle staatliche Gewalt ist dadurch an das „Recht“ gebunden und kann rechtlich überprüft werden. Der Rechtsstaat ist das Gegenteil von Willkürherrschaft, in der allein das Recht des Stärkeren, Mächtigeren gilt. Das Rechtsstaatsprinzip soll Bürger vor staatlicher Willkür schützen und Korruption vermeiden. Nichts davon ist in der Praxis perfekt umgesetzt. Auch der Rechtsstaat funktioniert nicht perfekt. Aber in einer Demokratie ist es möglich, Fehler und Probleme offen zu diskutieren, den Rechtsweg zu beschreiten oder eine Regierung einfach abzuwählen. Auch wenn wir auch in der Demokratie immer wieder für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen müssen, brauchen wir aktuell nur nach Russland zu sehen, um die Systemalternative zu erkennen. Obwohl Russland in der Verfassung als „demokratischer, föderativen Rechtsstaat“ beschrieben wird, hat sich das System unter Präsident Putin schrittweise zu einem despotischen, totalitären System entwickelt, in dem selbst die wenigen demokratischen Elemente, die es zeitweise gab, wieder komplett abgeschafft wurden. Selbst zarteste Kritik kann mit drakonischen Strafen belegt werden. Investigative Journalisten und ernsthafte Oppositionspolitiker werden verhaftet oder ermordet. Es gibt kein unabhängiges Parlament und keine unabhängige Justiz. Es gibt kein verläßlichen Rechtsstaat, sondern die Bürger sind der Willkür der Machthaber schutzlos ausgesetzt. Wer in diesem System vorankommen will, muß entweder gewaltbereit oder korrupt sein. Die Wahlen sind so manipuliert, dass niemals die Opposition gewinnen kann. Selbst der Zugang zum Internet ist eingeschränkt. Das ist nicht nur keine „lupenreine Demokratie“. Das ist gar keine Demokratie, sondern ein offensichtlich totalitäres System. Wer von unserem System als „Diktatur“ spricht, weiß offensichtlich nicht, was „Diktatur“ bedeutet.
Aber zugegeben, auch die aktuelle Demokratie der westlichen Staaten ist alles andere als perfekt. Nicht zuletzt die Sprache von Politik und Verwaltung ist für vile Bürger abgehoben, phrasenhaft und unverständlich.
Die Verwaltungssysteme sind ein Hort wirklich schlimmer Begriffe. In der Bürokratie finden wir nicht nur Wörter, die sperrig und aufgeblasen sind, die hässlich klingen, sondern gleichzeitig gemein sind. Am gemeinsten sind oft gar nicht die wirklichen Schimpfwörter, sondern die Wörter, die etwas Unangenehmes oder Hässliches sprachlich neutralisieren oder aufhübschen (Euphemismen).
Ein Wort wie „Aufenthaltsgestaltung“. Ich stelle mir darunter ein Angebot eines Wellnesshotels vor: „Bitte teilen Sie uns ihre Wünsche zur Aufenthaltsgestaltung mit“. Oder: „wir wünschen ihnen eine angenehme Aufenthaltsgestaltung. Nutzen sie unseren Sauna- und Wellnessbereich mit angeschlossener Romantikbar“. Doch es ist kein Hotelgast, der dieses Wort abgeben möchte, sondern ein junger afghanischer Flüchtling. Nach vielen Jahren in Deutschland ist sein Asylantrag immer noch nicht genehmigt, obwohl längst die Taliban die Macht in seiner Heimat übernommen haben und die Familie im Iran feststeckt. Seine „Aufenthaltsgestaltung“ erweist sich nicht gerade als Wellness- und Romantikorientiert. Deutschkurse wurden ihm verweigert – er hat es auf eigene Faust gelernt. Er darf die Region nicht verlassen. Er zeigt mir ein Dokument, dass ich zum ersten Mal sehe. Eine Art Passersatz. Jetzt verstehe ich das Missverständnis. Er meint gar nicht „Aufenthaltsgestaltung“, sondern „Aufenthaltsgestattung“. Zugegeben, fast identisch und doch ganz anders. „Aufenthaltsgestattung“ nennt sich im Bürokratendeutsch das Recht, sich während der Durchführung eines Asylantrages in Deutschland aufhalten zu dürfen. Kein echter Aufenthaltstitel, nicht einmal eine Duldung, sondern die juristische Umschreibung eines weitgehend rechtlosen Zustandes. Ein solcher juristischer Schwebezustand ist ursprünglich nur als kurzfristiger Übergang gedacht. In der Praxis ziehen sich diese Zustände bei vielen Antragstellern über viele Jahre hin. In alten, finsteren Zeiten wurden Flüchtlinge bis zur Gewährung eines formalen Aufenthaltsrechtes in geschlossenen Lagern interniert. Heute dürfen Asylbewerber ihre Gemeinschaftsunterkunft, aber nicht den Landkreis verlassen. Dazu gilt ein weitgehendes Arbeitsverbot. Für die Betroffenen eine schwierige Situation. Sie wissen nicht, wie es weiter geht. Werden sie abgelehnt? Werden sie abgeschoben? Bekommen sie eine Anerkennung? Oder wenigstens eine Duldung? Der Afghane lebt schon seit vielen Jahren in diesem Schwebezustand. Außerdem hat er das Gefühl, dass die ukrainischen Flüchtlinge bevorzugt behandelt würden. Immerhin ist er jetzt mit seinen selbsterlernten Sprachkenntnissen ehrenamtlicher „Integrationslotse“ und hilft anderen frisch angekommenen Flüchtlingen. Die „Aufenthaltsgestattung“ muss alle drei Monate verlängert werden. Bei einer Ablehnung ist die Abschiebung jederzeit möglich.
Wallah, kommentieren zwei Jugendliche und wollen das Wort gleich abgeben. Was Wallah genau bedeutet, wissen sie nicht. Tatsächlich bedeutet der arabische Begriff „Wallah“„ich schwöre“ und hat sich in den letzten Jahren in der Jugendsprache ziemlich ausgedehnt, weit über Jugendliche mit arabischem Migrationshintergrund hinaus. Und offenbar wird er mittlerweile so oft und so wahllos angewendet, dass selbst manche Jugendliche es als Füllwort ohne eigene Bedeutung wahrnehmen, und Füllwörter sind ja bekanntlich entbehrlich.
Entbehrlich sind natürlich auch zahlreiche herabwürdigende Begriffe wie „behindert“, „sozial schwach“, „Schwuchtel“, „Krüppel“, „Spast“, obwohl ich mich dann schon frage, woraus die Schulhofgespräche noch bestehen könnten. Auch das „Patriarchat“ wird zumindest schon mal sprachlich entsorgt. „Body Positivity“ soll weg. Auch das ein Euphemismus? Oder nur ein leerer Begriff? Ein Placebo? Am Ende muss das „Nutztier“ dran glauben, „wirsehenuns“ nervt und „genau“ ist unerträgliche deutsche Rechthaberei. Ich habe den Eindruck, dass meine Besucher mit den Ersatzworten sehr zufrieden sind. Wenn ich nachfrage, kompliziert oder einfach, möchten sie fast immer ein kompliziertes Wort.
Es bleibt die Frage, ob die Demokratie jetzt sprachlich gereinigt und gestärkt ist. Und wo ist die Grenze zwischen dem Verzicht auf nervige, sperrige oder diskriminierende Wörter und Zensur? Wäre alles besser, wenn es keine Füllwörter gäbe, keine Euphemismen, keine abwertenden und diskriminierenden Wörter? Wäre unser System dann effektiver und gerechter? Und was ist eigentlich das besondere Verhältnis von Demokratie und Sprache? Gibt es eine Sprache der Demokratie? Ist Demokratie nicht auch der Versuch, Konflikte möglichst sprachlich zu regeln – durch öffentliche Debatten, durch einen verlässlichen, sprachlich codierten Rechtsrahmen (Verfassung) und natürlich durch ein rechtlich garantiertes „Mitspracherecht“.
Gibt es bei aller Freiheit, bei allem Verzicht auf Zensur auch notwendige Grenzen des Sprechens in der Demokratie? Aufrufe zu Gewalt und Hass, Verleumdung, Mobbing? Aufrufe zur Zerstörung der Demokratie, das Propagieren von totalitären Ideen? Und wo beginnt die sprachliche Diskriminierung? Wie weit muss die Toleranz gehen, ohne in Gefahr zu laufen, sich selbst abzuschaffen? Ach so, die Toleranz ist ja schon weg, abgestempelt als überflüssig. Bitte suchen Sie also ein besseres Wort!