14.10.2020 Stadtbücherei Frankfurt, Bibliothekszentrum Sachsenhausen, Blog Teil 2
Mein Büro ist näher an Treppe und Eingang gerückt. Das fühlt sich besser an. Besser integriert. Allerdings ist heute bei weitem nicht so viel los wie gestern. Auch das W-Lan funktioniert seit gestern nicht. Erst dachte ich, es läge an meinem MacBook, aber heute beschweren sich auch andere Nutzer. Ein Anruf klärt: W-Lan ist auch in der Zentrale ausgefallen. In Zeiten der Pandemie ist die Bücherei ein ruhender Pol, abseits digitaler Hektik.
Dafür ist mehr Zeit für intensive Gespräche über Sprache. Ein älterer Herr, der gestern schon einmal das Büro umrundet hatte, stellt sich seitlich an mein Büro. Setzen mag er sich nicht. Aber wir geraten in ein langes Gespräch über Sprache, über die Exaktheit von Begriffen, über die Anzahl von Höhepunkten, die ein Roman verträgt und über die durch unseren Medienkonsum veränderte Wahrnehmung, über Beschleunigung und Reizüberflutung, über die Veränderung von Ästhetik in jeder Generation. Der Herr wunderte sich, dass ich ihn trotz Gesichtsmaske wiedererkannt habe. Ich verwies auf seinen Trenchcoat, der heute nicht mehr so üblich ist, worauf wir ins Plaudern kommen über die (Über)Macht der Bilder und visuellen Eindrücke, die alle Wörter beiseite drängen. Es gibt viele Wörter und Begriffe, die ihn ärgern. Abgeben möchte er aber keines. Es gibt doch keine „überflüssigen“ Wörter, oder?
Ein weiterer älterer Herr läßt sich nieder. Wir plaudern über aussterbende oder ausgestorbene Wörter. Einerseits ist jedes Aussterben bedauerlich, andererseits werden ausgestorbene Wörter eben nicht mehr gebraucht, sind ergo: überflüssig. Als Beispiel gibt er das Wort „Mängelrüge“ ab, das seiner Ansicht nach vollständig von dem Fremdwort „Reklamation“ verdrängt worden sei. Aber tatsächlich geraten wir hier wieder in die Fallstricke des Juristendeutsch, wie ein weiterer Gast erklärt. Mängelrüge und Reklamation seien keinesfalls identisch sondern etwas völlig anderes und die Mängelrüge würde nach wie vor als juristische Kategorie Verwendung finden.
Beim Versuch der Nachforschung erstaunt, dass „Mängelrüge“ keinen Wikipedia- Eintrag hat. In meinem Duden von 1996 finde ich das Wort immerhin unter dem Oberbegriff „Mangel“. Als juristischer Fachbegriff ist die „Mängerüge“ scheinbar weiter im Umlauf und bezeichnet die „Anzeige eines Mangels“ an einer gekauften Ware oder Dienstleistung. Die fristgerechte Anzeige des Mangels ist wiederum ein Kernelement der „Reklamation“, aber nicht identisch damit. Reklamation ist wiederum der umfangreichere juristische Vorgang, aber die Abgrenzung ist nicht einfach.
Mit einer jungen Mutter diskutiere ich hingegen die passenden Kategorien für „Wortmüll“. Sie hat eine Reihe von Wörtern dabei, die ihr irgendwie falsch oder problematisch vorkommen. Sexy, Schuld, Verlierer sollen weg. Aber warum genau? Was macht die Problematik von Sexy aus? Geht es um Puritanismus, um Verachtung von Erotik und sexueller Anziehungskraft? Nein. Die Dame findet das Wort unangemessen vor allem im Zusammenhang mit ihrer kleinen Tochter. Zweifellos ist die Benennung von Kindern als „sexy“ problematisch, zumal hier ein Machtgefälle zum Ausdruck kommt. Auch „Schuld“ ist schon weg. Immer diese Schuldzuweisungen. Sollte es nicht eher um Verantwortung gehen? Aber wenn die Schuld weg ist, wie soll man sich da noch entschuldigen? Hat am Ende der für die Stasi spitzelnde DDR Liedermacher Gundermann recht, das man sich gar nicht ent-schuldigen könne? Würde „ent-schuldigen“, so Gundermann, nicht bedeuten, sich selbst freizusprechen? Eine Anmaßung? Andererseits, wenn es keine Entschuldigung mehr gäbe, würden dann unsere Beziehungen nicht viel schwieriger werden? Oder ist das alles nur Wortklauberei und der Versuch, sich aus der Verantwortung zu stehlen, zu der es eben auch gehört hättet, ein Zeichen der Reue zu geben. Es tut mir leid – das ist der klassische Entschuldigungssatz und die Entschuldigung selbst ist nun mal ein Alltagsritual, das unsere Beziehungen am Laufen hält.
„Sieger“ sollen auch weg. Aber bleiben dann nicht nur noch „Verlierer“? Ja, das geht dann doch nicht. Was machen wir mit den Verlierern. Die müssen auch weg. Keine Sieger – keine Verlierer. Kein ewiger Wettkampf und Wettstreit und keine ewige Konkurrenz. Kein Mobbing und keine Ellbogen, keine Ausgrenzung. Aber wäre diese Welt nicht sehr langweilig?
Mittlerweile biete ich an, die Wörter nach verschiedenen Kategorien und Kürzeln zu trennen.
FÜ = Füllmaterial (Plastikwörter, Blähwörter, Worthülsen)
TX = Giftig (negative, abwertende, manipulierende, diskriminierende Begriffe)
UP: Unpassend (Euphemismen / verschleiernde Begriffe)
VA: Veraltet / Abgenutzt
BZ: Buzzwords, Übernutzt / Modewörter /
DE: Denglisch
UV: Unverständlich
SO: Sonstige
Die Einsortierung fällt nicht leicht. Aber das ist ja beim Mülltrennen auch nicht so. Kommen Verbundmaterialien jetzt in den Verpackungsmüll oder den Restmüll?
Und wohin mit der Schuld? Der Restschuld?
Schließlich empört sich eine ältere Dame über die Bezeichnung „Ersatzwort“ für das Austauschwort, dass ich anbiete. Ist das nicht selbst ein „Unwort“. Ein Wort sei doch immer ein Wort und niemals Ersatz. Ein Ersatzwort greife die Würde des Wortes an.
Mein Einwand, dass Wörter zahlreiche Eigenschaften annehmen können, fruchtet nicht. Das „Ersatzwort“ muß weg. Das Ersatzwort für das Ersatzwort ist Alternativ-Wort. Alternativ ist freundlicher. Wo der Ersatz auf den Mangel hinweist, auf die brutale Entsorgung des Wortes (aber wie kann denn ein Wort wirklich verschwinden?) weist die Alternative sanft auf verschiedenen Möglichkeiten hin, läßt die Entscheidungsfreiheit bestehen, ob ich denn nun Alternativwort oder Ersatzwort sage. Zugegeben, wenn ich umgekehrt von Ersatzmedizin statt von Alternativmedizin spreche, klingt das nicht so freundlich. Also verschreibe ich ein fröhliches Alternativwort, dass ein wenig an eine unbekannte Frucht erinnert und hoffe, dass es trotzdem wirkt.
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