BiKuZ Frankfurt Höchst 23.-31.5.2016 – Teil 4
Das Deutsche gilt als eine Sprache der feinen Unterschiede. Nicht zuletzt deswegen ist es angeblich die perfekte Sprache zum Philosophieren – so ein gängiges Klischee
Worte oder Wörter? Was ist eigentlich der Unterschied? Geht beides und in welchem Fall oder muss es in jedem Fall Wörter heißen. Ein Anrufer, der bei hr2 kultur von meinem Projekt gehört hat, stellt die peinliche Frage. Zugegeben, ein kniffliger Sonderfall der deutschen Sprache. Tatsächlich gibt es nur im Deutschen für das Wort „Wort“ zwei Plurale.
Die ehrwürdige „Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung“ mahnt, den „Reichtum“ der deutschen Sprache zu erhalten und den inhaltlichen Unterschied zwischen beiden Formen zu respektieren. Der Duden erklärt: „Wörter“ bezeichnet beliebige einzelne Wörter, Wörter als lexikalische Einheit – alle Wörter mit x, zum Beispiel. Worte sind hingegen besondere, große Worte, aber auch Wortgruppen und Begriffe, z.B. die „letzten Worte“, das „die Worte Buddhas“, aber auch Aussprüche, Beteuerungen, Erklärungen.
Gute Frage: Geht es in meinem Büro um Wörter oder um Worte? Muss ich mein Büro umbenennen? Einerseits möchte ich alle möglichen Wörter, die Menschen nicht mehr brauchen. Andererseits haben diese Wörter als „überflüssige“ schon eine besondere Bedeutung, die über das Einzelwort hinausgeht. Ich nehme ja auch feststehende Begriffe auf, die aus mehreren Wörtern bestehen. Ich glaube, es treffen beide Bedeutungen zu. Eine Entscheidung fällt mir daher nicht leicht.
Im Übrigen geht es mir gar nicht so sehr um sprachliche Dudenkorrektheit. Als Künstler darf man sich zum Glück Freiheiten nehmen. Sonst wäre ich wohl Lehrer geworden. Apropos Korrektheit. Am ersten Tag wurde ich von einem arglistigen Lehrer gefragt, auf wie viele Wörter ich den Deutschen Wortschatz schätze. Eine fiese Fangfrage, denn schon der Duden selbst weist darauf hin, dass eine exakte Schätzung unmöglich ist, weil ständig neue Wörter gebildet und aus anderen Sprachen entlehnt werden. Und die Frage, was denn ein „deutsches“ Wort ist, lässt sich auch nicht beantworten. Zu sehr ist die deutsche Sprache von Anfang an klanglich und kulturell durchmischt – wie vermutlich die meisten Sprachen.
Leichter lässt sich scheinbar der durchschnittliche aktive Wortschatz eines deutschen Sprechers ermitteln. Duden gibt ihn mit 12 000 – 15 000 an. Der durchschnittliche passive Wortschatz läge hingegen bei ca. 50 000 Wörtern. Die Schwankungsbreite dürfte jedoch erheblich sein.
Eines dieser „Wörter“ ist „Äppler“. Jemand möchte es aus seinem Wortschatz streichen. Offenbar kein Freund des sauren Stöffchens. Irrtum. Im Gegenteil. Ein traditionsbewusster Apfelweinkelterer auf dem Weg zum einem Kongress über das „Älterwerden“ klärt mich auf: „Äppler“ sei ein Kunstbegriff, der von zwei Großkeltereien zu PR-Zwecken kreiert wurde. Der echte hessische Mundartbegriff sei „Ebbelwoi“ oder „Stöffche“. Ich muss zugeben, ich habe auch schon den ein oder anderen „Äppler“ bestellt. Er geht leichter über die Lippen, wenn man kein Mundartsprecher ist. Immerhin, versuche ich mich zu verteidigen, hat die „Äppler“ Kampagne das saure Getränk weit über Hessen hinaus populär gemacht. Eine gelungene PR-Strategie. Das ist doch eigentlich gut für die Apfelweinwirtschaft.
Ein weiteres Fettnäpfchen wartet auf mich, als mich der HR für ein Interview direkt im Büro anruft. Der HR hatte seine Hörer gebeten, sich an der Aktion per Telefon zu beteiligen. Neben dem typischen Unwort „Gutmensch“ hat auch jemand „genau“ als überflüssig gebrandmarkt. Ich merke sofort peinlich berührt, dass ich dieses Wort im Gespräch mit dem HR-Redakteur vor fast jeden Satz hänge. Selbst in vollem ertapptem Bewusstsein klebe ich das Wort wieder und wieder an meine Sätze, ein Sprachautomatismus, dem ich nicht entkommen kann. Andererseits hat das Wort aber auch eine Funktion, denke ich. Ich bestätige im Gespräch mein Gegenüber, stelle eine gemeinsame Gesprächsbasis und Vertrauen her. Ein typisches Verhalten am Anfang eines Gespräches, eine Variante des „Spiegelns“ vielleicht. Im Laufe des Gesprächs werde ich – wie viele andere – zunehmend kritischer.
Der Kongress zum Älterwerden spült auch einen heimatvertriebenen Schlesier an meinen Stand. Er möchte keine Worte abgeben. Die deutsche Sprache ist ihm wichtig, Wort für Wort. Außer den schlimmen Jugendwörtern. Wörtern mit „V“. Aber die will er nicht in den Mund nehmen und noch weniger aufschreiben. Nach dem Krieg hätte man ihm in Polen die deutsche Sprache rausgeprügelt und russisch und polnisch reingeprügelt. Später hätte er die Sprache mühsam neu lernen müssen. Jetzt will er sie behalten. Wort für Wort. Außer vielleicht, er grübelt angestrengt, außer „Hallo“. So eine respektlose Begrüßung. Das ist doch kein deutsches Wort, empört er sich.
Bei den jüngeren Besuchern sind erste Suchtverhaltensweisen erkennbar. Einige kommen jeden Tag wieder und drängen alle ihre Freunde, auch ein Wort abzugeben. Besonders eifrig ist ein junges Mädchen, das am letzten Tag zusammen mit ihrer Mädchenclique mindestens vier Mal auftaucht und jedes Mal noch ein Wort und noch ein Wort abgibt. Dann zieht sie sich kurz zurück, dann kommt sie wieder mit noch einem Wort und hat gleich drauf noch eins. „Besserwisser“ ist nur eins von vielen…in der Tat ein unangenehmes Wort und auch ein unangenehmer Geselle. Sie überlässt mir so viele Wörter, dass ich Angst bekomme, ihr Wortschatz könnte ernsthaft Schaden nehmen. Nein, ich kann jetzt nicht jeden Tag hier sein und Wörter einsammeln, antworte ich auf ihre Frage. Vielleicht würde sie am liebsten ihre ganzen Worte hergeben und gegen Neue eintauschen.
Als ich einpacke, steht sie immer noch in der Nähe. Aber diesmal ist ein Mann bei ihr, vermutlich ihr Vater. Sie stehen ganz eng beisammen. Das Mädchen, das eben noch übersprudelte vor Ideen, ist jetzt ganz stumm und steif und sieht traurig aus. Ich frage sie, ob sie noch ein Wort hat, aber sie schütteln nur kurz den Kopf, ohne mich anzusehen. Ich frage den vermeintlichen Vater, aber auch er schüttelt nur kurz den Kopf. Dennoch bleiben beide lange stehen und schauen mir zu, wie ich abbaue.