Festival „Zürich liest“ 28.-29.10.2018, Karl-Der-Große, Zürich
Bei „Zürich liest“ sind die Wörter ganz nah an den basalen Bedürfnissen. Sie bewegen sich zwischen Hacksteak, veganem Curry, Suppen und Salaten.
Zum Nachtisch soll plötzlich die „Würde“ weg. Eine Dame sitzt vor mir – etwas unsicher – aber das Wort muss weg, findet sie. Die Würde ist einfach nicht das, was sie verspricht. Je mehr alle von Würde reden, desto weniger Würde sei erkennbar, vorausgesetzt man wüsste überhaupt, wie diese Würde aussehen sollte. Ich, sage ich, habe mir die Würde eigentlich immer als marmorne Büste mit Krönchen und Hermelinmantel auf einem Thron vorgestellt.
Die Schweizer Verfassung kennt keine Königswürde, dafür aber – weltweit einmalig – eine „Pflanzenwürde“.
Vielleicht geht das meiner Wortabgeberin zu weit, vielleicht will sie nicht, dass sich die „Ethikkommission für den Ausserhumanbereich“ in ihre Gartenarbeit einmischt. Vielleicht sieht sie die Würde entwürdigt. Wie auch immer: das Wort „Würde“ soll weg. Ein Ersatzwort ist schnell gefunden – ich kann aber nicht garantieren, ob und wie schnell das neue Wort Eingang in die Schweizer Verfassung erhält.
Im Fahrwasser der Würde erscheint die „Nacktschneckenschleimspur“, die ein traumatisierter Gartenbesitzer loswerden möchte. Vielleicht hat die „Nacktschneckenschleimspur“ den würdevollen langen Bart des Gartenzwergs besudelt. Schnecken – besonders Nacktschnecken haben vor gar nichts Respekt.
Respektlos und daher überflüssig findet eine Besucherin das Wort „Scham“ – aber nur in Zusammenhang mit Körperteilen und Sexualität. Schamlippen, Schamhaare sollen weg. Natürlich nicht wörtlich sondern bildlich gesprochen. Natürlich ist sie auch gegen Sexualverstümmelung, fügt sie hinzu. Das Wort will sie aber nicht abgeben.
Sexualität ist immer noch ein heikler Bereich für Wörter. Früher wurde die Benennung großzügig vermieden. Vielleicht sollten wir in Zukunft intime und nicht intime Körperteile einfach mit Nummern oder Nummern/Buchstabencodes bezeichnen. Damit wäre jede Scham und auch jede Anzüglichkeit überflüssig.
Apropos Anzüglichkeit. Die „Dämlichkeit“ wird wegen Sexismusverdacht entsorgt, ebenso wie wenig später die „Herrlichkeit“. Es sei ein böses Vorurteil, dass Damen dämlich seien, während die Herren alle Herrlichkeit beanspruchen können. Also weg mit „dämlich“ und „herrlich“.
Stumpfe, emotions- und vermutlich geschlechtslose Etymologen behaupten leider beharrlich, die Dame habe sprachlich mit der Dämlichkeit nichts zu tun. Sie sei eine sprachliche Tochter der lateinischen Domina. Dämlich sei hingen mit dem mittelhochdeutschen „damisch“ und dem „Dämlack“ sowie mit dem „dämmern“ verwandt. Im Bayrischen sagt man bis heute „dammisch“ statt dämlich. Aber das sind vielleicht nur „alternative Fakten“. Was die „Herrlichkeit“ betrifft können sich die Herren nicht so leicht herausreden….ja, es gibt einen Zusammenhang von Herr und Herrlichkeit….aber welchen verraten wir lieber nicht.
Während die Schweizer freigiebig hochdeutsche Begriffe entsorgen, halten sie doch eisern an ihren ganz eigenen Wörtern fest. Wir brauchen alle unsere Wörter, behaupten sie stur. Vermutlich haben sie Angst, dass ein Deutscher ihnen subversiv ihre Sprache und ihre Identität raubt und sie am Ende alle als Niedriglohnsklaven in norddeutschen Schlachthöfen enden, während die Schweizer Berge an multinationale Konzerne verkauft werden.
Die erste Wortabgabe erfolgte vermutlich versehentlich. Ein Kind hat eine ganze Lise von Wörtern erstellt, darunter den schweizerischen „Muff“ (verärgert sein).
Auf beharrliche Nachfrage – es muss doch auch schlimme Schweizer Wörter geben – bekomme ich die zögerlich die „Schnägg“ gereicht – ein Tier, das vieles symbolisieren kann, vom Fünf Franken Stück über ein besonderes Gebäck bis zu vermutlich Unaussprechlichem.
Die „Schnägg“ wird gefolgt vom Tötschli (ein ganz herziger Dummkopf, auch ein Kloß), vom „amel“ (manchmal) und meinen persönlichen Favoriten „bibääbele“ – das mir als überbemuttern, überversorgen übersetzt wird. Liebe Schweizer! Sollten diese Interpretationen nicht korrekt sein, bitte ich das zu entschuldigen und bitte demütig um Nachhilfe.
Am Sonntag sammeln sich Rotten von Kindern zur kollektiven Wortabgabe. Ganze Familien wollen ihren Wortschatz erleichtern. Bald kommt es zum Finalen Wortschlußverkauf – alles muß raus – Blöd, Schule, Mobbing, schlimm, Eifersucht, Dumm und noch mal dämlich. Selbst die „Schöne Aura“ wird abgestempelt. Dann noch ein eigenartiges Wort wie „Slöm“, das eher auf das Plattdeutsche oder Schwedische hinweist. Wer weiß, wie es in die Schweiz gekommen ist.
Der Worttausch scheint bei Kindern suchterzeugend zu wirken. Beim Abstempeln von Wörtern entwickeln sie einen gefährlichen Eifer. Vielleicht ist die Lust am „abstempeln“ ein archaisches Grundbedürfnis. Die Kinder kommen jedenfalls immer wieder mit immer mehr Wörtern, die sie ihrem Wortschatz entziehen. Und sie tauschen die echten Wörter begeistert gegen meine Unsinnsworte. Leider sagt die Erfahrung, dass man mit zu viel Fantasie und zu wenig Realismus im Leben oft Schwierigkeiten bekommt. Ich kann nur hoffen, dass mein Wortprojekt bei Kindern keine nachhaltigen Schäden hinterlässt.