Von Unterschiedlichkeit betroffen

Bundesweite Fachtagung „Inklusion und Teilhabe im Übergang von der Schule in den Beruf“, 21.-22.11.2016, Hamburg

Wo gehobelt wird, da fallen Späne, heißt es. Wo geredet wird, fallen überflüssige Wörter an und auf, sage ich und platziere Schreibtisch und Topfpflanze am Rande des Kongress-Saales.

Komisch, bei dem Wort „inklusiv“ fällt mir gleich das Gegenteil ein. „Exklusiv“ war doch bis vor kurzem noch ein positiv besetzter Begriff für das „Besondere“, „Außerordentliche“, „Einzigartige“, den „Exklusiv-Urlaub“, dessen Besonderheit oft in einem „all-inclusive“ besteht. Ich denke an Exklusiv-Nachrichten und Interviews. Exklusivität für Alle. An diesem Ort ist „exklusiv“ aber ein Unwort, das für Abgrenzung und Ausgrenzung steht.

Mein erster Eindruck: hier hat sich eine durchaus exklusiv-distinguierte Gesellschaft aus den Leitungsebenen sozial relevanter Institutionen versammelt. Interessante Frage: wieviel haben Ihre Sprache ihre Lebenswirklichkeit mit ihrer Inklusionsklientel zu tun. Einfache oder leichte Sprache ist ein großes Thema im Rahmen der Inklusion, doch zu den meisten Fachvorträgen ist dieses Konzept scheinbar nicht vorgedrungen. Immerhin sehe ich unter den ca. 400 Teilnehmern mindestens eine Rollstuhlfahrerin. Und die Moderatorin ist blind, aber ziemlich auf Zack.

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Das BüW hat einen Platz im Plenarsaal. Leider in der hintersten Ecke, hinter einer schweren Doppeltür, die sich „aus technischen Gründen“ nicht öffnen lässt. Die Teilnehmer betreten und verlassen den Saal durch eine Tür auf der anderen Seite. Werde aus der Distanz misstrauisch beäugt. Versuche hinter meinem Schreibtisch eine offene und zugewandte Haltung einzunehmen. Aber wie soll ich mit Menschen Kontakt aufnehmen, die in mehr als drei Meter Entfernung vorbei hasten. So ist es also, mittendrin im Abseits zu sein. Ob es sich für Inklusionskinder in Regelschulen auch so anfühlt?

Immerhin bekomme ich so einen Teil der spannenden Vorträge mit. Es geht um den unerklärlichen Zuwachs von „LSE-Kindern“ mit Defiziten in den Bereichen Lernen, Soziales, Emotionen (früher hätte man „lernbehindert“ und „verhaltensauffällig“ gesagt), Nachteilsausgleich und Berufseinstiegsbegleitung. Ich erfahre von engen und weiten Inklusionsbegriffen. Von der Inklusion von Menschen mit Behinderungen und der Inklusion „aller von Diversität betroffenen Menschen“.

Wow. Von „Unterschiedlichkeit“ betroffen. Das betrifft eigentlich jeden Menschen – mehr oder weniger. Ganz sicher bin ich von Unterschiedlichkeit betroffen. Sogar sehr. Bin kein Bildungs- oder Inklusionsexperte. Habe mich als dickköpfiger Künstler mit extremem Individualitäts- und Freiheitsfetisch freiwillig von der Mehrheitsgesellschaft abgesondert. Und doch darf ich hier sein. Am Rand, aber dabei. Immerhin ist der Rand immer eine gute Beobachterposition. Aber ich bin ja nicht nur zum Beobachten hier.

Nutze die Mittagspause, um meine Inklusion in diesen Kongress voranzutreiben. Schiebe mein Büro kurzerhand vor die Tür ins Foyer, mitten in die Masse der wortgeschwängerten, hungrigen, durstigen Kongressteilnehmer. Hemdkragen werden gelockert, Blusen gelüftet, Kaffee verschüttet. Es gibt ein Bedürfnis zu reden. Manche sind jetzt übervoll mit Wörtern und gelegentlich schwappen sie über auf meinen Schreibtisch. Sobald die Ersten hier stehen und schauen, greift das Gesetz der Neugier und der Nachahmung. Aus einzelnen Interessierten werden kleine Gruppen. Wo eine Gruppe steht, scheint etwas los zu sein. Es spricht sich herum: hier kann abgestempelt werden! Mit dem Abstempeln von Wörtern haben die Kongressteilnehmer keine Probleme.

Abgestempelt werden:  „Ausbildungsreife“, „Finanzierungsvorbehalt“ „Rehabilitationspädagogischen Zusatzausbildung“. „Übergangslösung“ und „Warteschleife“ müssen dran glauben ebenso wie „zielführende“ „Zeitfenster“ mit „Pilotprojekten“ und „Eingliederungsvereinbarung“. Auch „handlungsorientiert“ „gegenderte“ „Dunkelziffern“ sorgen für Sprachfrust. Vor allem wenn sie in „europaweiten Ausschreibungsverfahren“ in „gefühlte“ „Stellenhülsen“ gegossen werden.

Stellenhülse“! Was für ein fantastisches neues Wort aus den sprachlichen Denkfabriken des öffentlichen Dienstes. Offiziell existiert es nicht. Es ist in keinem Lexikon zu finden. Und doch ist es da. Es bezeichnet auch etwas, das nicht existiert, aber verwaltet werden muß. Ist das Existenzialismus oder Zen? Manche behaupten, es ginge um formale Scheinstellen, die weder finanziert noch besetzt seien. Die präziseste Beschreibung stammt von der Uni-Göttingen. Am Anfang war die Hülse, dann kam die Tarifgruppe, gefolgt von der Stelle. Und am Ende schlüpft ein Mensch herein, vielleicht, oder auch nicht. Aber niemals ohne Hülse. Zumindest in Göttingen.

„Diese Hülsen sind Kostenstellen (Abteilungen, GZG oder Fakultät) zugeordnet. Jede Hülse ist durch eine Tarifgruppierung charakterisiert (z.B. TVL-E6). Bei Neu- oder Wiederbesetzungen ist darauf zu achten, dass die Stelle entsprechend der Tarifgruppe für die Hülse ausgeschrieben wird. Eine Besetzung auf einer höheren Gruppe erfordert das Vorhandensein einer entsprechenden Hülse auf Ebene der Kostenstelle. Ist eine solche Hülse nicht vorhanden, kann keine Besetzung nach einer höheren Tarifgruppe geschehen. Das gilt unabhängig vom Vorhandensein notwendiger Mittel.“
https://www.uni-goettingen.de/de/organisation/368220.html