Asymptomatisch astronale Mutti

Stadtbücherei Frankfurt, Bibliothekszentrum Sachsenhausen, 15.10.2020

Rekordzahlen an Coronainfektionen, die lange vorhergesagte zweite Welle mit der Tendenz einer exponentiellen Steigerung ist da. Die Situation ist angespannt. Umsomehr verwundert mich, dass ich nicht mehr Wörter zur aktuellen Krise bekomme. Online kam die „asymptomatische Erkrankung“, sofort kommentiert von einem Kritiker der Corona-Maßnahmen, der den Witz des Begriffes offensichtlich nicht verstanden hat.

Dennoch schwebt Corona als unausgesprochenes Damoklesschwert über dem Projekt. Ich sitze mit Mundschutz hinter einer Plexiglasscheibe, das Desinfektionsspray immer griffbereit. Nach jeder Benutzung werden die Stifte desinfiziert. Hygienekonzept Eins A. Besonders kommunikativ ist das nicht. Ich vermute, dass die Menschen auch wegen Corona vorsichtiger in der Kommunikation sind, möglichst schnell in die Bücherei huschen und möglichst kontaktlos wieder raus.

Ebenfalls online trudelt das Wort „Mutti“ ein. Ohne Kommentar. „Mutti“ ist natürlich ein vielschichtiger Begriff mit einer eher problematischen Konnotation. Wer eine Frau „Mutti“ nennt, meint mehr als die wertneutrale „Mutter“ oder das kindliche Mami. Mutti ist ein verdruckstes Erwachsenenwort. Mutti ist die Mutter-Karikatur, steht für ein Übermaß an mütterlichen Eigenschaften: (Über)fürsorge, (Über)vorsicht, aber auch für (Über)macht. Mutti schwingt den Kochlöffel und achtet darauf, dass der Teller leer gegessen wird. Mutti scheucht den Pantoffelhelden und seinen Nachwuchs nach ihren Regeln. Mutti duldet keine Widerrede. Mutti kann man es nie recht machen. Mutti ist die omnipräsente, dominante und erdrückende Mutterfigur. Erwachsene Männer, die an Mutti denken, mutieren automatisch zu saft- und machtlosen Riesenbabies oder Vorschulkindern in der Trotzphase. In der Öffentlichkeit mit Mutti aufzutreten ist – zumindest vielen Männern – eher peinlich. Ich vermute, dass sich Frauen ungern als Mutti bezeichnen lassen. Und natürlich schwingt in der „Mutti“ zu diesen Zeiten auch noch der Verweis auf die Bundeskanzlerin Angela Merkel mit. Merkel ist als kinderlose Naturwissenschaftlerin zwar alles andere als die typische Muttifigur. Aber vielleicht neigen Männer dazu, Frauen ab einem bestimmten Alter pauschal als Mutti zu definieren, um nicht zu sagen – abzuwerten. Gelegentlich scheint eine fast paranoide Männerangst vor der Übermutti geradewegs in die Vorstellung von der „Merkel-Diktatur“ zu führen, obwohl Merkel in der Praxis ziemlich machtlos ist. Das Durcheinander in der Corona-Politik macht gerade das deutlich.

Statt Corona bekomme ich Carglass. Noch nie gehört. Offenbar der Name einer Firma, die Autoscheiben repariert und dazu noch eine nervige Werbemelodie hat. Kein klassisches Wort, sondern eine Firmenbezeichnung, aber ich will nicht kleinlich sein. Die Dame, die mir das Wort überreicht, stört sich vor allem an der auch lautlich unschönen Zusammenfügung von car und glass. Auch wenn sich der Begriff aus zwei korrekten englischen Wörtern zusammensetzt ist das Kompositum die exklusive Erfindung einer deutschen Firma und dürfte Englisch Muttersprachlern unbekannt sein. Im Englischen spricht man eher von Auto Repair als von Car Repair und von Front Shield, Windshield oder Car Window Repair. Irritiertend ist in der deutschen Wahrnehmung vor allem das Doppel-S des Wortes Glas. Das ist zwar im Englischen korrekt, aber in unseren Ohren und Augen schmerzt es.

Vor allem ältere Menschen schätzen die Sitzmöglichkeit, die Ansprache und vielleicht auch das Gespräch selbst. Führe mehrere lange Gespräche über Sprache, über den Sinn und Unsinn von „überflüssigen“ Wörtern, über die Bereicherung der Sprache und Gesellschaft durch Migration von Menschen und Wörtern, über die Verständigung bei Motorradreisen durch Afrika, Sprache am Krankenbett und linguistische Experimente.

Eine Dame, die sich als Linguistin vorstellt, würde lieber Wörter erfinden, als abgeben. Ob ich das Wort „astronal“ kenne. Die meisten glauben, es sei ein echtes Wort. Aber sie habe es erfunden.

Ich bekomme eine Reihe interessanter Krankheiten abgegeben, darunter Alektorophobia: Die Angst vor Hühnern. Angeblich verbreiteter als man denkt. Es gibt tatsächlich fast nichts, vor dem Menschen keine Angst haben. Ob es die ebenfalls abgegebene Employomanie wirlich gibt, bezweifele ich. Der Zwang als Büroangestellter zu arbeiten. Vermutlich ein Scherz mit Anspielung auf meine Büroinstallation. Tatsächlich gibt es längst Internetseiten mit denen Fantasiekrankheiten mit echt klingenden Namen erzeugen kann.

Zu den Highlights des Tages zählen das Taunus Wunderland und das Teppich Paradies. Schon wieder Firmenbezeichnungen, aber zweifellos interessant. Das Taunus Wunderland ist eine Mischung von Kirmesattraktionen und Disneyland und eine Art Kinderparadies. Für Erwachsene eher die Hölle. Aber die können ja von ins Teppich Paradies, in dem sich die Kinder ganz sicher langweilen werden. Tja, das Paradies der einen ist die Hölle der anderen.

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